Arran, die Verantwortung für das Buch liegt grundsätzlich beim Verlag, der den Autor unter Vertrag hat, das Buch verkauft und für die Satzherstellung bezahlt. Wenn der Verlag eigenmächtige Eingriffe der Setzer akzeptiert, ist das seine Sache. In der Zeit des Bleisatzes, wo die Tilgung von Hurenkindern einigen Aufwand verursachte, war es natürlich vor allem eine Kostenfrage. Ein lebender Autor bekommt Korrekturabzüge, es liegt an ihm, solche Eingriffe zu akzeptieren oder nicht - mit ihm kann man sich absprechen. Bei philologisch anspruchsvolleren Ausgaben kommen eigenmächtige Änderungen der Setzer jedoch überhaupt nicht in Frage. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass Philologen jedes Komma bei Goethe untersuchen und dann akzeptieren, dass die Setzer mit dem Text machen, was sie wollen. Ich hatte mal mit Übersetzungen französischer Literatur aus dem 19. Jahrhundert zu tun, wo vom Autor spezielle, sinngliedernde Absatzabstände mit ein oder zwei Leerzeilen vorgegeben waren - es ist völlig ausgeschlossen, da irgendetwas an den Absätzen zu manipulieren. Vergiss es, das geht definitiv nicht. Der Setzer ist für die Form zuständig, nicht für den Inhalt, und von ihm ist zu erwarten, dass er Form professionell meistert. Ansonsten lies z.B. Jan Tschichold, Ausgewählte Aufsätze über Fragen der Gestalt des Buches und der Typographie, 2. Aufl. Basel 1987, S. 155ff. - der "Papst" Tschichold fand interessanterweise einige durchaus unorthodoxe Lösungen von Hurenkindproblemen akzeptabel, nur nicht Textänderungen. Übrigens beklagt Tschichold sich in dem Aufsatz darüber, dass zwar das Verbot von Hurenkindern gelehrt wird, aber zu wenig gelehrt wird, wie man sie mit setzerischen Mitteln vermeidet. Der hätte deinen Lehrern wohl ordentlich die Leviten gelesen.
utnik hat geschrieben:es gibt durchaus buchverlage (im sachbuchbereich), die deine religion nicht teilen und auch mal einen satzspiegel ungefüllt lassen, wenn umschreiben nicht elegant genug möglich ist.
utnik, ich bitte dich, was soll dieser Ton? Ich vertrete hier keine "Religion". Das tun andere: Ich habe schon über so manche Beiträge in diesem Forum und im Vorgängerforum gelacht, wo Teilnehmer mit viel Sendungsbewusstsein und wenig fachlichem Hintergrund einen wahren Kult des Grundlinienrasters propagieren oder mit angelesenem Halbwissen ex cathedra erklären wollen, was "guter Satz" ist. Das ist die Religions-Fraktion, ich habe damit nichts zu tun. Ich sage: Typographie beinhaltet Problemlösungen unter Berücksichtigung bestimmter ästhetischer und funktionaler Leitlinien und Regeln, über deren Umsetzung von Fall zu Fall entschieden werden muss. Dabei gibt es oft Ermessensfragen und manchmal auch unterschiedliche Meinungen. Im Unterschied zu dir versuche ich hier nicht, dem Rest der Welt meinen persönlichen Geschmack mitzuteilen, sondern ich versuche, deutlich zu machen, was für Lösungen für bestimmte Probleme in Frage kommen und üblich sind. Ein brauchbares Programm sollte dafür zweckmäßige Werkzeuge bereitstellen - dem Anwender bleibt überlassen, welche er nutzt. Versucht doch bitte nicht immer, Scribus schönzureden mit Argumenten wie "vertikale Keile brauche ich gar nicht", "ich setze alles auf Grundlinienraster", "Grauflächengestaltung ist mir egal" usw.
Was die Verlage angeht: Kleinere Verlage und auch größere Sach- und Fachbuchverlage leisten sich heutzutage meistens gar keine professionelle Satzherstellung mehr, sondern der Lektor wird als DTPist angelernt, oder den Autoren werden Layoutvorlagen in Word oder LaTeX bereitgestellt (wobei LaTeX natürlich die bessere Wahl ist). Ja, es gibt Verlage, die Bücher mit Word herstellen. Das kann von mir aus jeder Verleger betriebswirtschaftlich für sich entscheiden, aber wollen wir das in einer Diskussion über die Verbesserung von Scribus zur Richtschnur erheben? Sicher nicht. Wenn man Word benutzt - klar, dann wird bei einem Hurenkind einfach die vorige Seite durch Umheben um eine Zeile gekürzt. Das Verfahren, eine Seite um eine Zeile zu kürzen oder zu verlängern (Letzteres geht natürlich nicht mit Word, in Layoutprogrammen müsste man den Textrahmen um eine Zeile vergrößern), kann unter Umständen auch in Betracht gezogen werden, in Amerika scheint es eher üblich zu sein als bei uns, und der berühmte Typographiepapst Tschichold, den ich oben in der Replik auf Arran bereits erwähnt habe, hat das
unter bestimmten Bedingungen sogar gutgeheißen (wenn die Seitenränder breit genug sind und die Pagina in der Kopfzeile steht - und natürlich nur dann, wenn man keine Möglichkeit hat, irgendwo durch Veränderung der Wortzwischenräume eine Zeile ein- oder auszubringen). Es ist eine Lösung, die
ausnahmsweise und bedingt akzeptiert werden kann, aber es ist zumindest in Europa keine Standardlösung. Standard ist, dass die Seiten gleich große Rechtecke bilden, und Hurenkinder sind genau deshalb unerwünscht, weil sie das Seitenrechteck zerstören. Ein Programm, das von Profis ernst genommen werden möchte, muss Werkzeuge bieten, die Standardlösungen unterstützen - ob diese Standardlösungen deinem persönlichen Geschmack entsprechen oder nicht, interessiert niemanden. Zu diesen Standardlösungen gehört der vertikale Keil: Es gibt auch eine Menge Publikationen, die nicht registerhaltig, sondern mit vertikalem Keil gesetzt werden, und in Verbindung mit dem vertikalen Keil ist natürlich eine Hurenkind-Funktion, die die beiden letzten Zeilen des Absatzes zusammenhält, äußerst hilfreich.
Wenn ich von Professionalität rede, meine ich Folgendes: DTP-Arbeit ist zum größten Teil Dienstleistung. Wenn du Aufträge von Buch- oder Zeitschriftenverlagen ausführst, bekommst du oft genaue Vorgaben vom Kunden. Wenn der Verlag einen vertikalen Keil verlangt und du dann sagst: "Das kann mein Programm nicht, ich arbeite nur mit Grundlinienraster", dann hast du im Handumdrehen einen Kunden weniger, so einfach ist das. Die Kunden, die noch Geld für Satz ausgeben, statt ihren Kram mit Word oder was auch immer selbst zusammenzuschustern, die wollen für ihr Geld dann auch eine vernünftige Qualität. Und jetzt stellt sich die Frage: Was soll Scribus sein? Ein Programm, mit dem man, alternativ zu Word, etwas irgendwie nach eigenem Geschmack zusammenschustern kann, oder ein Programm, mit dem man zumindest dem Prinzip nach mit vertretbarem Aufwand gängigen branchenüblichen Anforderungen gerecht werden kann?
Ich plädiere für das Letztere und versuche hier Überlegungen beizusteuern, wie Scribus dem Standard angenähert werden kann - auch wenn klar ist, dass der Abstand zum Industriestandard InDesign von ein paar ehrenamtlichen Entwicklern nicht im Handumdrehen aufgeholt werden kann und Prioritäten gesetzt werden müssen. Dabei gehe ich nicht von meinem persönlichen Geschmack aus: Ich verwende zum Beispiel gerne Mediävalziffern und hätte insofern gerne OpenType-Unterstützung, die InDesign schon lange hat, aber ich glaube, OpenType hat als avancierte Experten-Funktion für Scribus zunächst einmal keine Priorität. Nach meinem Ermessen wäre es wichtiger, Scribus erst einmal im Hinblick auf die Basisfunktionen der Raumverteilung voranzubringen, weil Raumverteilung das A und O der Typographie ist. Ich versuche, eine rationale (nicht "religiöse") Diskussion über Prioritäten zu führen und Verständnis für systematische Zusammenhänge zu wecken, mit dem Ziel, das Programm Scribus ein bisschen konsistenter und praxistauglicher zu machen - Konsistenz erzielt man nicht durch ein Aufaddieren subjektiver Geschmackspräferenzen, sondern dafür braucht man systematisches Verständnis. Wenn mir dann aber einfach nur solche subjektiven Präferenzen als "Argument" entgegengehalten werden, dann kann ich mir die Mühe wohl sparen.